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Beitrag vom 09.12.2019
The Kindness of Strangers - Kleine Wunder unter Fremden. Regie: Lone Scherfig, Kinostart: 12. Dezember 2019
Helga Egetenmeier
In ihrem einfühlsam inszenierten Episodenfilm wirft Regisseurin und Drehbuchautorin Lone Scherfig einen Blick auf Gewalt gegen Frauen, auf die Einsamkeit in der Großstadt und unerwartete Begegnungen. Dies alles bringt sie vor der Kulisse New Yorks zusammen mit der Frage nach gegenseitiger Unterstützung, die auch aus einem respektvollen Umgang von einander unbekannten Menschen bestehen kann.
Ernsthaft wie auch humorvoll gestaltetet Lone Scherfig damit ihre Erzählung über zwei auf sich gestellte Frauen und ihre einsamen Mitmenschen, die sich in den ärmlichen Seitenstraßen von New York begegnen. Der Film eröffnete die diesjährige Berlinale und feierte im Wettbewerb seine Premiere.
Als Drehbuchautorin und Regisseurin blickt die in Dänemark geborene Lone Scherfig liebevoll und neugierig auf die in New York lebenden Obdachlosen abseits der glamourösen Boulevards. Dorthin lässt sie gleich in der ersten Szene die 26-jährige Clara (Zoe Kazan) mit ihren Söhnen Anthony und Jude vor ihrem gewalttätigen Ehemann flüchten. Im anbrechenden Winter driften sie dann durch sonnenbeschienene Seitenstraßen, wärmen sich in der Stadtbibliothek, schlafen im Auto und sind Gäste in der Suppenküche, sowie im russischen Restaurant Winter Palace.
Frauen in alltäglichen Bedrohungssituationen
Die zweite Szene des Films führt in das helle Licht einer in blauen Farbtönen gehaltenen Notaufnahme. Dort geht die Krankenschwester Alice (Andrea Riseborough) ihrer Arbeit nach. Ein Mann erklärt ihr gerade, er werde versuchen sich zu bessern und seine Frau nicht mehr verprügeln. Gleich im Satz danach schlägt er der irritiert lächelnden Alice eine Heirat vor: "Mein Freund Hank hat ´ne Farm in Nebraska und braucht ´ne nette Frau zum Putzen." Keine Erkenntnis durchzieht sein Gesicht, und Lone Scherfig macht damit klar, welchen Bedrohungen Frauen im familiären wie beruflichen Nahbereich ausgesetzt sind.
Einige Szenen später wird verständlich, weshalb Clara Angst davor hat, dass ihr Mann sie sogar in der Großstadt New York finden könnte. Denn hinter ihm steht ein kollegialer Machtapparat, den er als Polizist zu nutzen weiß. Als Clara sich bei einer Suche nach einer Unterkunft weigert, ihre Personalien anzugeben, will ihr die Frau am Empfang helfen: "Sie können die Polizei wegen Schutz anfragen". Auf ihr "Nein." kommt die Feststellung, "Sie werden also gesucht." auf die sie nur mit einem weiteren "Nein." antwortet und dann wortlos wieder auf die Straße zurückgeht. In diese kurze Inszenierung packt Lone Scherfig das ganze Dilemma einer Mutter, deren Bedrohungssituation nicht einfach zu erklären ist.
Orte des Schutzes und Menschen, die helfen
Über Alice, die sich freundlich und tapfer durch die Welt schlägt und dabei an Alice im Wunderland erinnert, führt der Film zu Orten und Protagonist*innen, die sich im Laufe der Episoden gegenseitig helfen und dabei zueinander finden. Neben ihrer Tätigkeit im Krankenhaus arbeitet sie noch in einer Suppenküche, in der auch der junge Jeff seinen Platz findet. Und gelegentlich geht sie im Winter Palace Essen. "Es ist so friedlich hier", benennt sie Timofey (Bill Nighy) gegenüber den Grund für ihre regelmäßigen Besuche in diesem wie aus der Zeit gefallen wirkenden, unübersichtlich und dunkel gehaltenen Restaurant, in dem später auch Clara mit ihren Söhnen Unterschlupf finden wird.
Ein weiterer Ort der Begegnung ist die Selbsthilfegruppe "Vergebung", die Alice einmal die Woche ehrenamtlich leitet. Hier begegnen wir Marc, dem stillen Ex-Häftling, und John Peter, seinem schüchternen Anwalt. Erneut schafft die Regisseurin mit wenig Worten und ausdrucksstarken Bildern ein Setting, das ohne moralische Schärfe unterschiedlichen Biografien Raum gibt und zu deren Betrachtung einlädt.
Die Zeit vergeht, mal scheint die Sonne, mal schneit es
Dezent hinterlegt mit melancholischen Klängen, leicht swingendem russischen Folk und Klaviermusik, gleiten die Szenen der unterschiedlichen Episoden nahtlos ineinander. Dazu spielt Lone Scherfig mit dem Licht der Sonne, wenn sie Clara und ihre Kinder glückliche Momente bei ihren Entdeckungsreise auf den New Yorker Seitenstraßen erleben lässt. Und in der Düsternis des russischen Restaurant ist die Mutter mit ihren Kindern unter wohlwollenden Fremden in Sicherheit. Hier entscheidet sich Clara auch, gegen ihren Mann vor Gericht zu ziehen und kämpft sich und ihre Kinder damit wieder in ein öffentliches Leben zurück.
In den einzelnen Episoden führen die Wege der Figuren immer wieder aneinander vorbei und werden dann durch sich festigende Freundschaften erneut verknüpft. Dabei bleibt die zeitliche Zuordnungsmöglichkeit manchmal auf der Strecke und dem Schneefall folgt eine gemeinsame Weihnachtsfeier, dieser dann kurz ein Gerichtsprozess, bevor der Winter wieder kommt. Dadurch gelingt dem Film eine Leichtigkeit, die nicht durch die detaillierte Ausbreitung seiner schweren Themen gebremst wird und somit auch etwas märchenhaft erscheint - und damit wird er auch zu einer zeitgemäßen Geschichte, bei der gelegentlich auch Tränen ihren Weg ins Auge finden.
AVIVA-Tipp: Ein modernes Märchen von Mitmenschlichkeit und Herzenswärme, das zeigt, warum Freundlichkeit und Verbundenheit keine naiven Tugenden sind, sondern das Leben erst zu einem glücklichen Ort machen. Dass Lone Scherfig damit auch die Dogmen von Geld, Glauben und Patriarchat unaufgeregt und selbstverständlich in Frage stellt, gibt dem Film auf leichte Art die nötige Schärfe.
Zur Regisseurin und Drehbuchautorin: Lone Scherfig studierte Filmwissenschaft an der Universität Kopenhagen und an der Sorbonne in Paris, sowie Regie an der Danske Filmskole. Bekannt wurde sie durch den Dogma-Film "Italienisch für Anfänger" (2000), für den sie 2001 den Silbernen Bären, den FIPRESCI und den Preis der ökumenischen Jury auf der Berlinale erhielt. Bei ihrem 2003 erschienen, ersten englischsprachigen Spielfilm, "Wilbur wants to kill himself", schrieb sie am Drehbuch mit. Danach folgte "An Education" (2009), eine britische Coming-of-Age-Geschichte, der neben anderen, auch den Publikumspreis als bester ausländischer Spielfilm beim Sundance Film Festival gewann. 2011 erschien "Zwei an einem Tag", dann "The Riot Club" (2014) und 2016 mit "Ihre beste Stunde" ein Filmdrama um die Emanzipation einer Frau in England während des Zweiten Weltkriegs.
Zur Hauptdarstellerin: Zoe Kazan, Enkelin des Regisseurs Elia Kazan, studierte an der Yale Universität Schauspiel und gab ihr Theaterdebüt 2006 an einer Off-Broadway Produktion. Ihre erste kleine Filmrolle erhielt sie 2007 in "Die Geschwister Savage" und im selben Jahr noch in "Das perfekte Verbrechen". Auf der Berlinale 2009 war sie mit Rebecca Millers "Pippa Lee" und mit dem Independentfilm "The Exploding Girl" zu sehen. Neben anderen, spielte sie in "Ruby Sparks" die Hauptrolle und schrieb dafür auch das Drehbuch. Sie wurde 2018 in die Academy of Motion Picture Arts and Sciences berufen, die jährlich die Oscars vergibt.
Zur Hauptdarstellerin: Andrea Riseborough machte 2005 ihren Abschluss an der Londoner Schauspielschule Royal Academy of Dramatic Art und erhielt 2007 den Ian Charleson Award, eine Auszeichnung für junge Bühnenschauspieler*innen, für ihre Rolle der Isabella in "Maß für Maß". Neben über 35 Filmen, spielte sie auch in der britischen Filmkomödie "Happy-Go-Lucky" (2008) von Mike Leigh und in der Filmbiografie "Battle of the Sexes - Gegen jede Regel" (2017) um das Match der Tennisspielerin Billie Jean King gegen Bobby Riggs, 1973, deren Freundin Marilyn Barnett.
Zum Hauptdarsteller: Bill Nighy arbeitete zuerst als Briefzusteller, bevor er eine Ausbildung an der Guildford School of Dance and Drama machte und dann anfangs im Theater arbeitete. Seine Karriere begann 1969 am Theater als Regieassistent, 1981 als Filmschauspieler mit einer Nebenrolle in "Die Nadel". Er spielte, neben weiteren Film- und TV-Produktionen, sowie Hörspielen, in "Harry Potter und die Heiligtümer des Todes - Teil 1" (2010), "Ihre beste Stunde" (2016) und "Der Buchladen der Florence Green" (2017).
The Kindness of Strangers - Kleine Wunder unter Fremden
Dänemark, Kanada (unter Beteiligung von Schweden, Deutschland, Frankreich), 2019
Regie und Drehbuch: Lone Scherfig
Darsteller*innen: Zoe Kazan, Andrea Riseborough, Tahar Rahim, Caleb Landry Jones, Jay Baruchel, Bill Nighy, u.a.
Verleih: Alamode Film
Lauflänge: 115 Minuten
Kinostart: 12.12.2019
Mehr zum Film unter: www.alamodefilm.de
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25. November 2019. Internationaler Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. #istanbuldurchsetzen. Istanbul-Konvention in Deutschland vollständig umsetzen. Online-Petition gegen häusliche Gewalt. Start der Initiative Stärker als Gewalt
Durchschnittlich jeden Tag wird eine Frau in Deutschland von ihrem (Ex-)Partner lebensgefährlich attackiert, jede Woche sterben dabei drei Frauen. Die Berliner Polizei hat in 2018 15.368 Fälle von häuslicher Gewalt erfasst, darunter waren 10.005 Frauen. Die Unterstützungsstruktur für gewaltbetroffene Frauen durch Schutzhäuser und Fachberatungsstellen ist weder flächendeckend noch allgemein zugänglich ausgestaltet sowie nicht angemessen finanziert. Aktionen sowie Stimmen zum Internationalen Tag NEIN zu Gewalt an Frauen auf AVIVA-Berlin im Überblick. Außerdem im AVIVA-Beitrag: Anlaufstellen bei Gewalt gegen Frauen. (2019)
Quelle/Copyright: Alamode Film